Nun sollte es also bald soweit sein, die Wiedervereinigung würde Wirklichkeit werden – ein Tag auf den wir, wie sicher viele Deutsche, lange gewartet hatten. Wie würde dieser Tag aussehen, wie würde man ihn begehen? So ganz im Stillen dachten wir, vielleicht auch von Wunstorf (unserem damaligen Wohnort bei Hannover) nach Berlin zu fahren, aber es würden Millionen Menschen dort sein, und davor hatten wir doch auch Bedenken.
Ende September erhielten wir dann einen Anruf von einem Freund aus Cottbus: Er feiere am 3.10. seinen Geburtstag (ein ganz besonderer also) und wollte uns zu diesem Tage einladen und die Wiedervereinigung mit uns feiern – wir sagten zu.
Die Fahrt sollte am 3. Oktober beginnen – und zwar nachts. Nachdem wir den Verkehrsfunk gehört hatten, der um 21.00 Uhr noch einen Stau von 70 km meldete, verabschiedeten wir uns von der Vorstellung, vielleicht doch noch nach Berlin zu fahren und fuhren schließlich um 2.00 Uhr morgens in Wunstorf ab. Wir hatten nun endlich eine Fahrt ohne Grenzen vor uns, ein Gefühl, das man eigentlich gar nicht beschreiben kann. Wir saßen total verspannt im Auto, obwohl doch eigentlich schon alles gelaufen war. Da die Autobahn leer war, entschlossen wir uns unterwegs, doch noch nach Berlin hinein zu fahren – also ab in Richtung Ku'damm. Es war 4.00 Uhr morgens und alles voller Menschen, sie waren fröhlich, freundlich, hilfsbereit. Auch im Pressecafé am Bahnhof Zoo rückte man zusammen, sodass wir dort frühstücken konnten. Und es waren nicht nur Berliner: Am Tisch saßen ein Hamburger, zwei Touristen aus Nordrhein-Westfalen, einer aus Franken und wir aus Niedersachsen. Alle führte in dieser Nacht die Wiedervereinigung nach Berlin, und alle waren optimistisch. An Freunde und Bekannte schrieben wir in dieser Nacht noch Ansichtskarten. Am Bahnhof Zoo, wo wir sie auf der Post stempeln lassen wollten, lagen Hunderte von Jugendlichen friedlich beieinander, den Rucksack unter dem Kopf, eingewickelt in Schlafsäcke und Decken. Da lagen Ausländer neben Deutschen, Skinheads neben Lederjacken – die Bahnhofshallen waren ein riesiger Schlafsaal geworden.
Danach fuhren wir zum Brandenburger Tor. Es lag schon Müdigkeit über den Menschen, Reporter standen mit schussbereiten Kameras vor dem Tor, die Reinigungskolonnen waren bei der Arbeit. Es dämmerte schon, und wir hielten das Ereignis im Bild fest: Das erste Mal in unserem Leben fuhren wir durch das Brandenburger Tor. Wir fuhren dann die Linden hoch, die Friedrichstraße entlang und sahen die neue Flagge auf dem alten Staatsratsgebäude wehen. Es war ein tolles Gefühl für uns – es war damals so mühsam gewesen aus diesem Staat herauszukommen, und nun bestätigte die Entwicklung das Recht unserer damaligen Entscheidung.
Die Fahrt ging dann durch Berlin in Richtung Autobahn, und um 7.15 Uhr klingelten wir bei unseren Freunden in Cottbus, die uns zwar so früh noch nicht erwartet hatten, sich aber trotzdem freuten. Wir frühstückten und gingen dann gemeinsam in den Gottesdienst, der ganz auf diesen historischen Tag aufgebaut war.
Als wir uns zu Hause bei unseren Freunden dann noch einmal die Bilder im Fernsehen anschauten, wurde mit einem Glas Sekt auf die Wiedervereinigung angestoßen und im kleinen Rahmen die Nationalhymne gesungen. Am Nachmittag waren wir dann zum Geburtstagskaffee eingeladen und auch hier standen beim ersten Glas Sekt dann alle Gäste auf und sangen die Nationalhymne. Diesmal nicht mehr bei geschlossenen Fenstern, sondern offen und frei. Und niemand schämte sich, wenn er sich eine Träne wegwischte.
Die Nacht in Berlin und die Feier mit Freunden, schöner hätten wir diesen Tag nicht verbringen können."
Hans und Ursula Senftleben