"Bis zum Mauerfall gab es für mich wenig Anlass, den Ostteil der Stadt zu besuchen. Keine Verwandten, Freunde oder Bekannten 'drüben' – warum also die entwürdigende Tour über die Grenzübergänge auf mich nehmen? Ab und an ein Theaterbesuch, oder, wenn es mir in der Mauerstadt zu eng wurde und Auslauf dringend geboten war, ein Ausflug nach Prenzlauer Berg oder zum Müggelsee. Umso eifriger machte ich mich nach der Maueröffnung daran, dieses unbekannte Terrain jenseits der innerstädtischen Grenze zu erkunden. Wo allerdings nicht alles glänzte, was im Schatten der Vorzeigemeilen Unter den Linden, Karl-Marx-Allee und Schönhauser Allee zum Vorschein kam. Vielerorts Tristesse und Verfall, stellenweise waren sogar noch die unvernarbten Wunden zu besichtigen, die der Krieg der Stadt geschlagen hatte. Unvergesslich der erste Besuch des sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park. Hier hatten sich die Sieger unübersehbar in das Gesicht der Stadt eingeschrieben, dabei keine Zweifel offen gelassen, wer im Land zwischen Oder und Elbe das Sagen hatte."
Gottfried Schenk