"Es ist der Dreikönigstag, nach einem gelungenen West-Ost-Jazzmusikantentreffen in Saalfeld fahren wir an der Grenze spazieren. Unser Gastgeber will uns voller Erleichterung und Freude die schöne Landschaft in der bisher unzugänglichen Sperrzone zeigen. Es ist schneeglatt, die schmalen und verwahrlosten Straßen sind nicht gestreut. Ein entgegenkommender Wagen aus dem Westen prallt auf uns. Bestimmt ist das der erste derartige Unfall an dieser Stelle, direkt am hinteren Sperrzaun, neben einem Wachtturm. Verletzt ist niemand, nur ein geringer Blechschaden.
Ein Einheimischer erscheint in bäuerlicher Arbeitskluft und gibt sich als Verkehrspolizist aus, ehemals Angehöriger der Grenzsicherungskräfte. Man geht sehr locker und freundlich miteinander um. Schließlich erscheint der 'ABV' [Abschnittsbevollmächtigte] der Grenztruppen, ein bisher gefürchteter Mann, Herr über Leben und Tod der Flüchtenden. Er stellt sich zuvorkommend mit Handschlag vor und fragt, was geschehen sei. Die Sache ist für ihn denkbar einfach: Da es sich bei den Kontrahenten um zwei Westler handelt, sollen die das untereinander ausmachen, was sie dann auch friedlich tun. Es wird fleißig fotografiert, all dies vor Monaten noch völlig undenkbar.
Ich befrage den 'ABV' zur Anlage der Grenze. Er gibt bereitwillig Auskunft über das Funktionieren dieses Sicherheitssystems: Täglich wurde ein 5 m breiter Kiesstreifen vor dem Zaun geglättet, um Spuren von Tritten rechtzeitig erkennen zu können. Stieg dennoch jemand über den Zaun und schnitt gar den Stacheldraht (aus schwedischem Edelstahl!) durch, wurde dies durch Signallampen im Wachtturm mit genauer Angabe des Ortes angezeigt. Sofort wurde Großalarm ausgelöst – keine Chance für den Flüchtenden. Zu alledem wurde der Grenzzaun nachts taghell beleuchtet. Dafür fehlte der Strom dann für die Bewohner, die sich regelmäßige Abschaltungen gefallen lassen mussten. Dieses teuflisch perfekte System war der Grund dafür, dass schließlich nur noch Grenzsoldaten an vorderster Linie zu flüchten versuchten, aber auch diese bezahlten das meist mit dem Leben."
Hans Dieter Kiemle