"Im Oktober 1987 gelang mir zusammen mit meiner Freundin und meinem Neffen die Flucht aus der DDR. Mit dem Schlauchboot fuhren wir von Ahrenshoop über die Ostsee bis nach Gedser auf der dänischen Insel Falster.
1989 reiste ich mit meiner Freundin über Weihnachten und Silvester zum ersten Mal wieder nach Berlin. Bereits die Autofahrt über die Transitstrecke nach West-Berlin, die ich nun gefahrlos benutzen durfte, weckte in mir unbeschreibliche Gefühle. War es Triumph oder Freude? War es die Wehmut, die verkommenen Dörfer wiedersehen zu müssen? War es Ärger, dass nun auch die Bonzen in den Westen durften?
Ich wollte Silvester in Ahrenshoop verbringen, dort, wo ich mich mehr als zwei Jahre zuvor mit dem Schlauchboot auf die Ostsee gewagt hatte. Wir fuhren einfach drauflos und hofften, dass unser Westgeld den Weg in ein Nachtquartier ebenen würde. Und so kam es auch. Der Leiter eines FDGB-Ferienheimes in Ahrenshoop, noch mit dem Parteiabzeichen am Revers, nahm uns beiseite und handelte verstohlen den Preis für zwei Nächte aus. In Westgeld natürlich. Wir durften in seinem komfortablen Privathaus wohnen. Das Auto sollten wir etwas abseits abstellen. Es wäre ihm lieber so, versuchte er zu erklären. Niemand sollte bemerken, dass er Gäste aus dem Westen beherbergte. Na also, ich fühle mich wieder wie "zu Hause" ...!
Unser erster Weg führte uns zu der Stelle, wo Jeannett, Axel und ich uns versteckt gehalten hatten. Ich wollte unbedingt nach Spuren suchen und Franziska alles zeigen. Die Landschaft war mit einer zarten Schneedecke bedeckt. Nach einigem Suchen fand ich im dichten Gebüsch die leere Sektflasche unserer Bootstaufe, ich erkannte sie genau wieder, und einen meiner Gummistiefel.
Dann suchte ich die Stelle, an der wir unter Büschen kauernd in der Kälte ausgeharrt hatten, um bei Monduntergang die Flucht zu wagen. Die Büsche waren inzwischen gewachsen. Die Orientierung fiel mir schwer. Doch plötzlich standen wir vor unserem Lager. Von Gestrüpp überwachsen und deshalb kaum zu sehen, lag da der Koffer, in dem wir unsere Stiefel und Capes transportiert hatten. Ich musste meine aufkommenden Gefühle in Schach halten.
Da fiel mir plötzlich eine Packung Tabletten auf. Verwundert hob ich sie auf. Tatsächlich, es waren die Tabletten, die ich damals vorsorglich gegen die Seekrankheit beschafft hatte. Ich hatte sie beim Anziehen des Capes in die Tasche gesteckt, um sie bei Bedarf sofort zur Hand zu haben. Doch sie waren wohl in der Aufregung danebengerutscht, denn ich konnte sie später im Boot nicht finden, als der Seegang immer höher wurde. Nun hielt ich sie hier in meinen Händen ... Es war das einzige, was ich zur Erinnerung mitnahm. Alles andere überließ ich der Natur, denn ich möchte irgendwann noch einmal dorthin zurückkehren. Für mich ist dieser Ort etwas ganz Besonderes."
Michael Löchelt (Hohenzethen)