"An was erinnere ich mich, und wie bin ich in die Wende hineingeraten, in die Bürgerbewegung überhaupt und in das Neue Forum?
Im Oktober 1989 kamen meine zwei in Suhl lebenden Söhne auf mich zu und sagten: 'Vater, in der Kirche finden irgendwelche Diskussionen statt.' Genaueres dazu wussten sie nicht. Ich sagte daraufhin: 'Ganz einfach, da gehen wir am Mittwoch selbstverständlich hin.' Ich dachte für mich, dass, wenn ich schon mit in die Kirche gehe, ich mich unbedingt an der Diskussion beteiligen müsse. Ich bereitete also einen Text vor und wollte mich zu gegebenem Zeitpunkt zu Wort melden.
In der Kirche schaute ich gespannt auf das Geschehen um mich herum und auf die Leute, die nach und nach scharenweise eintrafen. Nach einem kurzen Gebet und einer Einleitung der Veranstalter begann die Diskussion. Ich war sehr aufgeregt, doch irgendwann kam der Punkt, an dem ich mir Mut machte, aufstand und ans Mikrofon vorging, um zu sprechen. Meine ersten zwei Sätze waren: 'Ja, wir wollen einen demokratischen Sozialismus. Ja, wir wollen eine sozialistische Demokratie.' Großer Beifall brach aus, und ich empfand eine befreiende Wirkung nicht nur bei mir, sondern auch bei den im Kirchenraum sitzenden Menschen. Wir alle spürten ein Aufbruchsgefühl in eine neue Zeit, natürlich auch hervorgerufen durch die Vorgänge in der Sowjetunion.
Am darauf folgenden Mittwoch stellte sich das erste Mal in Suhl in der Hauptkirche das Neue Forum vor. Es bildeten sich Arbeitsgruppen zu allen Fragen einer neu aufzubauenden Demokratie. Ich schloss mich der Arbeitsgruppe 'Verfassung, Wahlrecht, Strafrecht' an, die sich aus Platz- und Sicherheitsgründen in der Sakristei der Kreuzkirche traf. Zu diesem Zeitpunkt war die Kirche, wie überall, ein vorsorgender Partner.
Wir übten uns zunächst in 'Demokratie'. Allen war das Herz voll, alle wollten sprechen, keiner kannte keinen, jeder hoffte, jeden zu kennen. Inwieweit der 'Krake Stasi' involviert war, konnte keiner erkennen. Sei es, wie es sei, wir begannen ein neues Wahlgesetz aufzubauen, später dann eine neue Verfassung. Alle erarbeiteten Texte wurden an eine Kommission der Volkskammer gesandt, einem Aufruf an die Bürgerbewegung folgend.
Am 4. November 1989 war dann der eigentliche Höhepunkt des Protestes und der Demonstrationen in Suhl. Vom Neuen Forum initiiert, riefen wir zu einer Demonstration auf. Zu allen 'Demos' fragte man mich, ob ich sprechen möchte, so auch an diesem denkwürdigen Tag, an dem (nach unserer Einschätzung) ca. 30 000 - 35 000 Bürger den Platz zwischen Kulturhaus und Stadthalle füllten.
Am 11. November 1989 fand eine der wichtigsten Demonstrationen in der Stadthalle statt. Nach den Diskussionsabenden in den Kirchen versuchten die Bürger mit dem damaligen SED-Oberbürgermeister Dr. Kunze ins Gespräch zu kommen. Tausende standen in den Straßen und vor dem Rathaus, wo die Diskussion stattfand. Sie alle wollten teilhaben, doch es gab nicht genug Platz. An diesem Abend begann eine sehr lebhafte, emotionale Diskussion, die nicht nur Missstände aufzeigte, sondern auch Forderungen aufstellte, die der Bürgermeister am Schluss mit den Worten abtat: 'Was versteht der kleine Mann auf der Straße?'. Eine totale Empörung bei den Bürgern war die Folge. Am 15. November musste er von seinem Amt zurücktreten.
Im Laufe der nächsten Wochen und Monate übertrug man mir verschiedene Aufgaben und wählte mich in den Sprecherrat des Neuen Forums – als sogenannter 'Freischaffender' (Komponist und ehemaliger Chefdirigent der Suhler Philharmonie) verfügte ich über genügend freie Zeit. Es kam dann so weit, dass ich derart in das politische Geschehen eingebunden war, dass ich nicht mehr zurück konnte und wollte.
Eines stand für mich fest, und dies habe ich bei mehreren Demonstrationen zum Ausdruck gebracht: Ich, der die Nazizeit bewusst miterlebt hatte, die Bombenangriffe in Dresden und die letzten Kriegsjahre erlebt und überlebt hatte, nach dem Krieg ein Wanderer zwischen zwei Welten war (ich war von 1947 bis 1951 in Speyer tätig und dann im Osten geblieben), wollte im Interesse meiner Kinder und meiner Enkel nicht zulassen, dass ein drittes Mal Diktaturen unser Leben beeinträchtigen, einschränken und uns in eine Zwangssituation führen, in der nicht nur die Persönlichkeit verloren geht, sondern vor allem die Zivilcourage abhanden kommt. Ich glaubte immer, welche besessen zu haben, schäme mich aber dafür, dass ich sie nicht viel früher und kompromissloser eingesetzt habe."
Siegfried Geißler